Bericht zu Veranstaltung 'Keine Befreier?' am 27.6.

Karin Beinhorn, GöttingerLinke

Am 27.06. 2015 fand in Göttingen eine gemeinsame Veranstaltung der Kreisverbands der DKP und des Ortsverbands Göttingen der Partei DIE LINKE. über aktuelle antirussische Stimmungmache zum 70. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus und über die Kontinuität der Russophobie in der deutschen Geschichte statt. Als hochkarätige Redner*innen dieser Diskussionsveranstaltung, die ursprünglich in der 8. Mai-Reihe ...

Am 27.06. 2015 fand in Göttingen eine gemeinsame Veranstaltung der Kreisverbands der DKP und des Ortsverbands Göttingen der Partei DIE LINKE. über aktuelle antirussische Stimmungmache zum 70. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus und über die Kontinuität der Russophobie in der deutschen Geschichte statt. Als hochkarätige Redner*innen dieser Diskussionsveranstaltung, die ursprünglich in der 8. Mai-Reihe terminiert war, konnten Sabine Lösung (Europa-Abgeordnete der Partei DIE LINKE.) und Sebastian Carlens (Chefredakteur 'Inneres' der Tageszeitung junge Welt gewonnen werden.
Letzterer musste leider kurzfristig absagen und wurde sehr souverän und sachkundig von Jan Steyer (DKP Göttingen) vertreten. Moderiert wurde das Ganze von Peter Strathmann (DIE LINKE. Göttingen).
Die Veranstaltung begann mit Referaten von Sabine und Jan, anschließend Fragen und Diskussion. BesucherInnenzahl: 15.

Sabine legte einen Schwerpunkt auf die Situation in EU-Parlament und Ausschüssen. Dort wird von einigen rechten Parteien wie der AFD antirussische und antikommunistische Propaganda forciert, ansonsten interessiert der Themenkomplex 'Osteuropa' kaum jemanden. Ein Problem, das sich der GUE/NGL-Fraktion stellt, ist die Tatsache, dass einige andere rechte Parteien wie Front National sehr russlandfreundlich eingestellt sind; da sie in einigen Punkten ähnliche Positionen beziehen wie die linke Fraktion, kommt es immer wieder zu Distanzierungsforderungen, was eben nicht immer machbar ist.

Wird in Parlament oder Ausschüssen die Thematik Russland/Osteuropa/Ukraine 'behandelt', so ist die Atmosphäre sehr aggressiv. Eine wirkliche Diskussion findet nicht statt; nichts darüber, was ein Konfrontationskurs gegen Russland bedeutet, völlig hergeholte Pseudoargumente wie z. B. daß die Sowjetunion (sic) vor fast einem halben Jahrhundert in die CSSR einmarschiert sei. Die Feindbildentstehung hat mit der Art des Diskurses zu tun. So werden immer wieder die gleichen Schlagworte – wie auch bei der sogenannten 'Sicherheitskonferenz' – in die Diskussion geworfen. Keywords: westliche Werte, hybrider Krieg, Aggression, schreckliche Erfahrungen aus Vergangenheit,...

Der Einfluß der EU-Osterweiterung oder der 'Nachbarschaftsabkommen' mit zuvor neutralen osteurop. Staaten spielt in der Diskussion keine Rolle. Tenor: Es gibt keinen Konflikt in der Ukraine, und wenn es Probleme gibt, so habe Rußland diese geschaffen ... Russland ist an allem schuld. Wie Sabine berichtete, werden Abgeordnete, die diese Meinung nicht teilen, persönlich angegriffen. Pfeifen, johlen, trampeln sind die normalen Begleittöne differenzierender Reden.

Anschließend ging Sabine auf die unterschiedliche Interessenlage und Politik von EU/Deutschland und USA ein. Die USA seien schon lange (spätestens seit 1948) russlandfeindlich. Nach dem Ende des 'Kalten Krieges' gab es eine klare Strategie, den Wiederaufstieg eines (neuen) Rivalen zu verhindern. Russland sollte beschädigt werden, zuerst wirtschaftlich, um es zu destabilisieren und um letztendlich zu einem 'regime change' zu gelangen. Die EU hingegen sei vorrangig daran interessiert, über die 'Nachbarschaftsabkommen' die Basis für ein imperialistisches Europa zu legen.

Mit falschen Behauptungen und einer Politik wie in Georgien, Ukraine, Kirgisien ... wird über 'Zivilgesellschaftsförderung' und 'demokratische Projekte' ebenfalls auf einen 'regime change' in Russland hingearbeitet. Die Folge dessen ist nun, daß Russland gesehen hat, daß sie nun selbst auch zu einer reaktiven 'stärkeren' Politik übergehen müssen. Auch dies sei eine schwierige Situation für die Linke. Man darf die innen- und die außenpolitische Situation in Russland nicht verwechseln und nicht die außenpolitische Lage instrumentalisieren lassen, um innenpolitische Demokratiedefizite zu verdecken. Aber der Aggressor seien die USA und EU. Zum Abschluß ihres Referats ging Sabine noch auf die spezielle Rolle Deutschlands als 'swing state' ein. Liegt Deutschland in seiner Politik mehr bei den USA oder wiegt das Eigeninteresse stärker?

Jan begann seinen Vortrag mit einem Hinweis darauf, wie sehr der Antikommunismus Einfluß hatte auf die Gedenkfeierlichkeiten zum 70. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus. Als Beispiele nannte er den Affront gegen Putin, der zu den Feierlichkeiten in Polen nicht eingeladen worden sei, obwohl die damalige Sowjetunion den größten Anteil an der Befreiung Europas vom Faschismus gehabt hatte und die SU gleichzeitig die meisten Toten zu verzeichnen hatte. Ebenfalls war die deutsche Regierung nicht bereit gewesen, trotz Einladung an den Feierlichkeiten in Moskau teilzunehmen.

Er sagte, daß es wichtig sei, drei Gesichtspunkte zu beachten: - Die Frage der Kontinuitätslinie im Russlandbild und dem Verhalten zu Rußland, - Die Situation nach 1990 aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten, nämlich aus der Sicht Russlands, aus Sicht Deutschlands und aus Sicht der USA, - sowie Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Interessen dieser Staaten und dabei auch zu beachten, ob und wann es qualitative (nicht nur quantitative!) Umschwünge in der Entwicklung zwischen ihnen gegeben hat.

Dazu gab er einen kurzen historischen Überblick, erinnerte daran, daß bei Waterloo die damals reaktionärsten Staaten in Europa, nämlich Russland und Preussen, gemeinsam gegen Napoleon, der damals noch die Ideale der französischen Revolution im Gepäck hatte, kämpften, und daß sich seit damals sehr viel an diesem Bild verändert habe. Anschließend beschrieb er die spezielle Entwicklung Deutschlands, den eigenverschuldet zuspätgekommenen Kapitalismus, den nachholenden Kapitalismus in Deutschland (vgl. Japan), die Nationalstaatsgründung 'von oben' herab, ... das Interesse an Einflußgewinn in Südost- und Osteuropa – da im Westen schon England und Frankreich ihre Interessensphären hatten – , die Versuche, mit Russland – das dort ebenfalls Interessen hatte – zusammenarbeiten, der Frieden von Brest-Litowsk, die Suche nach 'Lebensraum im Osten' gipfelnd im Kampf gegen den 'jüdisch-bolschewistischen Untermenschen'. Dem deutschen Angriffskrieg gegen die Sowjetunion fielen mehr als 27 Millionen Sowjetbürger zum Opfer.

Aber: Bei Adenauer saßen mehr Nazis in der Regierung als im 1. Kabinett Hitler! Antikommunismus war prägend, man sehe u. a. den Umgang mit Kriegsdienstverweigerern – Du gehst mit deiner Freundin im Park spazieren und dann kommt ein Rudel Russen und will sie vergewaltigen und du hast zufällig eine Waffe...

Bezogen auf die heutige Situation sprach der Referent von den unterschiedlichen Interessen der USA und Deutschlands. So sei z. B. Deutschland in der Ukraine an einer prowestlichen Regierung in einem intakten Staat sehr gelegen, die USA hingegen hätten auch keine Probleme mit einem 'failed state', und er verwies darauf, daß die oft in bestimmten Kreisen geäußerte Behauptung, die USA seien der große Aggressor, der Europa diktiere, was zu tun sei, Propaganda sei. Die Interessen lägen oft nahe beieinander wie der Bruch des Vertrages, die Nato nicht weiter nach Osten auszudehnen, zeige. Deutschland kann so seinen wirtschaftlichen Einfluß erweitern, die USA militärisch näher an Russland heranrücken.

Hier hat Putin immer wieder darauf hingewiesen, daß Russland die Einkreisung und das Säbelrasseln der Nato durchaus als Bedrohung wahrnimmt. In Sachen Ukraine stoßen mittlerweile allerdings immer deutlicher Interessen der amerikanischen und der deutschen Bourgeoisie gegeneinander, da Deutschland gern mit allen Geschäfte macht. Der Konflikt geht z. T. quer durch die Unternehmen. Z. Z. steht die Mehrheit der Bourgeoisie wegen wirtschaftlich geringerer Verluste (offiziell) (mehr) auf der Seite der USA, unter der Hand läuft der Handel mit Russland weiter. Ein interessanter Nebenaspekt ist auch noch die Frage, wie das deutsche Kapital sich – bei zunehmender Aggression der USA gegen China und dem 5x so großen Handelsvolumen Deutschlands mit China – dort positionieren wird.

Neu bei dem Ukrainekonflikt ist im Gegensatz zu früheren Auseinandersetzungen, daß a) 2014 beim Euromaidan eine Seite bewusst auf offene Nazis gesetzt hat und b) wie massiv in offiziellen deutschen Medien die Geschichte umgeschrieben wird; als Beispiel die Tagesthemen, wo zur besten Sendezeit ausgerechnet Jazenjuk sich über die Aggressivität Russlands auslassen durfte und dies damit begründete, daß die Sowjetunion im zweiten Weltkrieg 'in Deutschland eingefallen' sei.
Am Schluß betonte der Redner noch – ebenso wie Sabine in ihrem Vortrag –, daß Putin für seine bürgerliche kapitalistische Klasse in Russland stehe und eben kein Linker oder Sozialist sei. Er verteidige in Sachen Ukraine die russischen Interessen!

Schon während des Vortrags, mehr aber noch im Diskussionsteil erwies sich das Publikum als außerordentlich gut informiert und interessiert, so daß auch dieser Veranstaltungsteil sehr ergiebig war. Im wesentlichen richtete sich die Diskussion an markanten Punkten der Vorträge aus, die nochmals hinterfragt und vertieft wurden. Aus Platzgründen sei hier auf Beispiele verzichtet.
In ihren Schlussworten betonten beide Redner*innen die Notwendigkeit, sich vor 'falschen Freunden' zu hüten, bei denen es in manchen Punkten Überschneidungen gebe. Man müsse genau hinsehen, was diese in anderen Dingen von sich gäben. Als Beispiel wurde PEGIDA genannt, die ja auch im Ukrainekonflikt eine prorussische Position vertreten würden. Man selbst müsse Klarheit in die Diskussion bringen und mit Argumenten aufwarten. Sabine wies dann noch einmal darauf hin, daß es ganz wichtig sei, rational an Dinge heranzugehen, aber wenn wir sehen würden, daß eine große Katastrophe billigend in Kauf genommen bzw. sogar auf eine solche zugesteuert wird, dann müsse von uns gegengesteuert werden, alles andere sei zutiefst unmoralisch.

Als Abschluß wurde noch auf zwei Lektüren verwiesen: Auf Lenins Sozialismus und Krieg und auf die kostenlose (erhältlich über Sabines Büro) neue Broschüre Expansion – Assoziation – Konfrontation: Europas Nachbarschaftspolitik, die Ukraine und der neue kalte Krieg gegen Russland.

Also wirklich eine sehr hochklassige gelungene Veranstaltung, bei der ein paar mehr Teilnehmer*innen durchaus angemessen gewesen wären. Besonders, da das Thema Ukraine und damit eben auch Antikommunismus und Russ*innenhass immer noch sehr aktuell ist.

Hervorzuheben ist noch die gelungene Zusammenarbeit von DKP und DIE LINKE, was sich hoffentlich wiederholen wird und durchaus auch auf eine gut funktionierende Wähler*innengemeinschaft Göttinger Linke hoffen läßt, nicht nur in Hinblick auf den im nächsten Jahr stattfindenden Kommunalwahlkampf.