Dokumentiert: Auf deutschem Boden kann eine ausbeutungsfreie Gesellschaft geschaffen werden

Götz Dieckmann

Rede von Götz Dieckmann am 19.8.2018 in Ziegenhals vor dem Areal der geschändeten und zertrümmerten Ernst-Thälmann-Gedenkstätte

Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Genossinnen und Genossen,

Hier in Ziegenhals sprach Ernst Thälmann am 7. Februar 1933 auf der berühmten illegalen Tagung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Deutschlands. Knapp einen Monat danach fiel er in die Hände der faschistischen Feinde. Nach elfeinhalbjähriger Einzelhaft wurde er von Bautzen nach dem KZ Buchenwald gebracht und auf dem Hinterhof des dortigen Krematoriums am 18. August 1944 von der SS erschossen. Die Nazi-Führung hatte es in all diesen Jahren nicht gewagt, Thälmann vor Gericht zu stellen. Sie befürchtete, solch ein Verfahren werde eine noch größere politische Niederlage heraufbeschwören als der „Reichstagsbrandprozess“.

Nun, da sich das Ende Hitlerdeutschlands abzeichnete und nach dem Stauffenberg-Attentat vom 20. Juli, erwies es sich, dass die Faschisten den nun Achtundfünfzigjährigen nach wie vor als höchst gefährlichen Gegner ihres Systems ansahen. Ihre Panik war begründet. Denn Ernst Thälmann und Georgi Dimitroff symbolisierten im Bewusstsein vieler Völker den Widerstand gegen das faschistische Grauen. Ich darf wohl voraussetzen, dass den hier Versammelten die Eckdaten der Biographie Ernst Thälmanns bekannt sind. Will man die Bedeutung historischer Persönlichkeiten erfassen, so gibt es vor allem zwei Wege.

Historiker werden ihr Augenmerk zuerst auf deren Rolle im historischen Umfeld richten. Sie werden analysieren, was der Betreffende in sich wandelnden Konstellationen wissen konnte, was ihn antrieb und inwieweit seine Schlussfolgerungen sich als richtig erwiesen. Doch es gibt auch noch eine etwas andere Art des Bewertens einer Persönlichkeit. Dabei rückt die Frage in den Vordergrund wie der Betreffende sich wohl zu den Herausforderungen positioniert hätte, die uns heute – ganz aktuell – umtreiben.

Auf diese zweite Sichtweise möchte ich mich bei der Würdigung unseres Genossen Ernst Thälmann konzentrieren. Entscheidendes erkennen wir so. Wir leben heute in einer Welt, die sehr großen Bedrohungen ausgesetzt ist. Das war zu Thälmanns Lebzeiten nicht anders. Vor dem Hintergrund der verheerenden Niederlage des Sozialismus in Europa erleben wir nun, wie das Weltgeschehen nach wie vor gekennzeichnet ist durch die sprunghaft-ungleichmäßige Entwicklung des Finanz- und Monopolkapitalismus und seiner imperialistischen Staaten. Die Folgen sind wie dazumal verheerend. Eine eskalierende Kriegsgefahr bedroht die Menschheit. Zugleich bildet diese Entwicklung den Nährboden für unübersehbare Schwenkungen in Richtung Faschismus auf mehreren Kontinenten. Natürlich sind die Lage und die konkreten Stationen etwa zu Beginn der dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts nicht völlig deckungsgleich mit den heutigen Entwicklungen. Damals sah sich der Imperialismus mit der aufsteigenden Sowjetmacht und einer mächtigen kommunistischen Weltbewegung konfrontiert. Da lag es nahe, den heraufziehenden Faschismus vor allem als Antwort auf die von der Kommunistischen Internationale ausgehende Gefahr zu begreifen. Heute jedoch ist unübersehbar: Faschismus floriert auch ohne vergleichbar machtvolle kommunistische Gefährder des Kapitals. Wenn es eng wird, wenn-von einem sehr hohen Niveau der kapitalistischen Entwicklung ausgehend –die Weltmacht USA sich offenkundig in einen „Absteiger“ verwandelt, dann sind Rassisten und Ultranationalisten auf dem Vormarsch. Dann schlägt die Stunde von Trump und seinesgleichen. Dann kriselt es in der NATO und der hochgerühmten „westlichen Wertegemeinschaft“. Dann beginnen konservative Parteien, ihre rechten Flanken für Faschisten weit aufzusperren.

Gemeinsam unsere demokratischen Rechte verteidigen!

Es ist eingetreten, was Max Reimann 1949 bei der Debatte des Grundgesetzentwurfes im Parlamentarischen Rat weitsichtig prognostizierte. Er begründete, warum die Kommunistische Partei Deutschlands dieser kapitalistischen Charta ihre Zustimmung verweigerte. Zugleich betonte er jedoch, es werde der Tag kommen, an dem die Kommunisten die entschiedensten Verteidiger der wenigen guten Paragraphen dieses Grundgesetzes sein würden.

Genossen! Dieser Tag ist ohne jeden Zweifel gekommen!

Angesichts dieser Entwicklung spüren wir umso schmerzhafter die Zersplitterung des linken Flügels des politischen Spektrums in unserem Land. Da ist es durchaus aufschlussreich, nachzulesen, was Ernst Thälmann Anfang der zwanziger Jahre einem befreundeten Genossen in Köln schrieb:

Wenn ich meinem Herzen nachginge, wäre ich schon längst in den Spartakusbund eingetreten. Aber jede Übertrittsbewegung einzelner ist jetzt schädlich… Es kommt jetzt darauf an, die Kommunistische Partei zu einer Massenpartei zu machen. Dies ist aber nur dann in kürzester Frist möglich, wenn sich der entscheidende Teil der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei mit der Kommunistischen Partei vereinigt. Diese Vereinigung anzustreben und diesem Ziel alles unterzuordnen ist unsere revolutionäre Aufgabe.“ Angesichts des Aufwinds für die AfD und der nationalistischen Rechtsschwenks in mehreren Staaten sind auch die in der Zeitschrift „Die Internationale“, (Heft 6/1932) nachzulesenden Feststellungen Thälmanns brennend aktuell: „Die erste und wichtigste Frage, die wir beantworten müssen, ... lautet: Wie war es möglich, dass im Wettlauf der Entfaltung der Klassenkräfte der Revolution und Konterrevolution das Tempo des revolutionären Vormarsches zurückblieb? Denn es ist eine Tatsache, dass sich die faschistische Konzentration der konterrevolutionären Kräfte trotz der Krise, trotz des revolutionären Aufschwungs in der Vergangenheit schneller entwickelte als die Formierung der Klassenkräfte des revolutionären Proletariats und der von ihm geführten werktätigen Massen. Es ist der Bourgeoisie gelungen, eine chauvinistische Welle in Deutschland zu erzeugen, wie wir sie kaum jemals zuvor erlebt haben.“

Thälmann bezog sich dabei nicht nur auf die Wahlerfolge der NSDAP, sondern auch auf den Schulterschluss der Nazipartei mit den „Deutschnationalen“, dem „Stahlhelm“ und dem „Landbund“ in der „Harzburger Front“ vom Herbst 1931. Zwar hatte sich dieses erzreaktionäre Bündnis in den Folgemonaten noch einmal zerstritten, aber wir dürfen nicht übersehen: Der ersten Hitlerregierung gehörten lediglich drei NSDAP-Mitglieder an. Das waren Hitler, Göring und Frick. Alle anderen Minister kamen aus eben jenen Gruppierungen der Mitverschwörer der „Harzburger Front“. Nun kann man gegenwärtig durchaus Betrachtungen darüber anstellen, welches Jahr der damaligen Zeitläufte unsere gegenwärtige Lage widerspiegelt.

Befinden wir uns noch im Jahre 1928 oder bereits im Jahre 1931? Ich tendiere zu Letzterem. Denn wir dürfen nicht verdrängen: Das von Anfang an verbrecherische Hitler-Regime ist legal-nach den Spielregeln der Weimarer Verfassung -an die Macht gehievt worden. Wir dürfen auch nicht unberücksichtigt lassen: Dieses Regime hat – nach den Olympischen Spielen 1936 und nach der Annexion Österreichs – ohne jeden Zweifel die Mehrheit der deutschen Bevölkerung hinter sich gehabt. Erst recht galt das nach dem Sieg über den „Erbfeind“ Frankreich im Jahre 1940. Erst nach der Niederlage von Stalingrad sollte sich das schrittweise ändern. All das wirft ein Licht auf die vermeintliche Stabilität der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie. Es ist doch so: In ruhigeren Zeiten bevorzugt das Monopolkapital diese Form seiner Herrschaft. Das gilt, solange Mehrheiten im Volk mit ihrem Votum an den Wahlurnen alle vier Jahre die bestehenden sozialökonomischen Verhältnisse absegnen. Gerät diese vermeintliche kapitalistische Idylle jedoch in „Unordnung“, dann schwenken die Mächtigen ohne Verzug weit nach rechts. Das ist es, womit wir es gegenwärtig zu tun haben. Alle Alarmglocken müssen ertönen. Hinzu kommt: Wer Ernst Thälmanns Vermächtnis zu seiner eigenen Maxime macht, lebt gefährlich. Eugen Levine, der Führer der Bayrischen Räterepublik, wurde 1919 von der Konterrevolution ermordet. Zuvor hatte er geschrieben: „Wir Kommunisten sind alle Tote auf Urlaub, dessen bin ich mir bewusst. Ich weiß nicht, ob sie mir meinen Urlaubsschein noch verlängern werden oder ob ich einrücken muss zu Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg.“

Das mochte mancher dazumal noch für eine dramatisierende Zuspitzung halten. Aber die Jahre von 1933 bis 1945 in Deutschland bezeugen die Wahrhaftigkeit dieser Sätze Levines. Zehntausende deutsche Kommunisten kamen im Kampf gegen den Faschismus um. Keine andere deutsche Partei verlor in diesen Schlachten so viele ihrer Mitglieder wie die von Thälmann geprägte Kommunistische Partei Deutschlands. Diese Tatsache hervorzuheben, bedeutet keineswegs, die Leistungen nichtkommunistischer Hitlergegner gering zu schätzen. Graf Stauffenberg und die Geschwister Scholl waren Helden, die selbstlos ihr Leben einsetzten, um die Ehre unserer Nation am Tiefpunkt deutscher Geschichte entschlossen zu verteidigen. Doch das Heldentum deutscher Kommunisten wird heutzutage entweder verschwiegen oder gar systematisch in den Dreck getreten. Das dürfen wir niemals hinnehmen!

Doch das ist ja nur die eine Flanke systematischer Verfälschung der deutschen Geschichte. Gewiefte Meinungsmanipulierer sind unermüdlich am Werk, jegliche Verantwortung des deutschen Monopolkapitals für die Katastrophen des 20. Jahrhunderts aus dem öffentlichen Bewusstsein zu tilgen. Im Fernsehen wollten solche „Kronzeugen“ wie der australische Historiker Christopher Clark oder der deutsche Politologe Herfried Münckler uns weismachen, der 1. Weltkrieg sei aus reinen Missverständnissen damaliger Herrscherhäuser hervorgegangen. Die Regierungen seien allesamt wie „Traumwandler“ in das Gemetzel „hineingestolpert“. Mit Monopolkapitalismus habe das nicht das Geringste zu tun.

Und die Faschismus-Definition Dimitroffs auf dem VII. Weltkongress der Komintern sei mit ihrer Charakterisierung des Klassencharakters und der Massenbasis der faschistischen Diktaturen lediglich eine haltlose Propagandathese der Kommunisten.

Folgt man Thälmanns Vermächtnis, so bedeutet das nicht zuletzt, seinen konsequenten Internationalismus und seinen erklärten Patriotismus in ihrer Einheit zu begreifen. Seine Stellung zur proletarischen Macht in der Sowjetunion muss ich sicherlich nicht ausführlich darlegen. Verweisen will ich jedoch auf einen Artikel aus seiner Feder, der in der „Roten Fahne“ vom 22. November 1932 erschien. Darin heißt es: „Erst wenn wir den Sozialismus in Deutschland haben…, erst dann werden die Notleidenden und Unterdrückten ein Vaterland haben, ein Vaterland, das uns gehört, erst dann werden sie eine sozialistische Heimat haben.“ Von dort spannt sich der Bogen zu der berühmten Antwort Ernst Thälmanns auf den Brief eines Kerkergenossen in Bautzen 1944: „Mein Volk, dem ich angehöre und das ich liebe, ist das deutsche Volk, und meine Nation, die ich mit großem Stolz verehre, ist die deutsche Nation. Eine ritterliche und stolze Nation… Ich bin Blut vom Blute und Fleisch vom Fleische der deutschen Arbeiter und bin deshalb als ihr revolutionäres Kind später ihr revolutionärer Führer geworden.“

Warum heute noch diese Hetze gegen die DDR?

Genossen! Wer als Bürger der Deutschen Demokratischen Republik gelebt und diesen Staat mitgestaltet hat, besaß über mehr als vier Jahrzehnte das von Ernst Thälmann angestrebte Vaterland. Das ist umso wichtiger zu betonen, weil unser Vaterland auf deutschem Boden, in einem der am höchsten entwickelten Länder der kapitalistischen Welt erkämpft worden ist und sich in harten Klassenschlachten jahrzehntelang zu behaupten vermochte. Wir wissen doch, wie es sich anfühlt, wenn man auf dem zentralen Schauplatz eines drohenden Atomkriegs leben muss. Und kaum ein anderer erfuhr so eindrücklich wie wir, welche Wirkungen imperialistisches Embargo und Handelskrieg haben. Das hervorzuheben ist wichtig, weil aufgrund dieser Tatsache und ihrer geographischen Lage unserer Heimat objektiv in der Vergangenheit, in der Gegenwart und auch künftig eine welthistorisch herausragende Rolle zuzuordnen ist.

Vier Jahrzehnte DDR – dieser Schmerz ist tief ins Bewusstsein der Ausbeuter eingebrannt. Denn wir haben es – trotz unserer unbestreitbaren Fehler und Schwächen – vermocht, unter Beweis zu stellen, dass auf deutschem Boden eine ausbeutungsfreie Gesellschaft geschaffen werden kann und der Sozialismus lebendig ist. Genau das ist es, was uns die Gegner nie verzeihen werden. Das ist der Grund, warum Woche für Woche Verleumdungskampagnen gegen die DDR die Sendeplätze der Medien besetzen.

Genossen, natürlich ärgere ich mich jedes Mal, wenn diese Hetze wieder losgeht. Aber mein Unmut währt inzwischen in der Regel nur kurz. Denn dann frage ich mich, warum die Feinde so etwas fast drei Jahrzehnte nach dem Untergang der DDR noch immer für unverzichtbar halten. Wenn unser Land tatsächlich eine so ineffektive und abstoßende Gewaltherrschaft gewesen wäre, dann wären solche nicht enden wollenden Kampagnen doch völlig überflüssig.

Nein, wir haben wesentlich dazu beigetragen, den Mythos zu widerlegen, ohne Großbourgeoisie und Profitwirtschaft sei eine moderne Gesellschaft nicht denkbar. Abscheu gegen superreiche Ausbeuter und Schmarotzer ist eben nicht rückwärtsgewandt und fortschrittsfeindlich.

So kommt man als Dialektiker folgerichtig zu dem Schluss: Die Monopolkapitalisten, die scheinbar so kraftstrotzend zugange sind, treibt in Wahrheit angesichts der Zuspitzung der Widersprüche ihres eigenen Systems die Furcht um, der Deckel könnte hochgehen und dann würden die Erfahrungen des Sozialismus auf deutschem Boden rasch für viele wieder sehr bedeutsam werden. Es geht ihnen bei ihrer Hetze also darum, prophylaktisch Abscheu durch Züchtung Pawlowscher Reflexe zu verankern; Abscheu, der sofort und möglichst scheinbar spontan wirken soll, wenn es um die DDR geht.

Halten wir deshalb fest: Wir hatten einst ein Vaterland! Ja: Wir sollten Reinhold Anderts „Lied vom Vaterland“, dem Land mit seinen alten Eichen, dem Land von Einstein, von Karl Marx und Bach öfter wieder singen. Und wir sind uns dessen bewusst: In der nächsten Runde wird die rote Fahne nicht nur über Eisenach, wo Bach geboren wurde, sondern auch über Ulm, woher Einstein stammte, natürlich über Trier, der Heimat von Karl Marx und über Thälmanns Hamburg wehen.
Trotz Alledem!