Matthias Höhn will eine andere Partei

BSR KPF

Erklärung des Bundessprecherrates der Kommunistischen Plattform der Partei DIE LINKE

Matthias Höhn, sicherheitspolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion unserer Partei, unterbreitete am 17. Januar 2021 ein Diskussionsangebot »Linke Sicherheitspolitik«. Johannes Schaible vom SPIEGEL hat Recht mit seiner Feststellung, das Höhn-Papier stelle »eherne Prinzipien infrage«. Und er muss Recht behalten mit dem Satz: »Die Widerstände in der eigenen Partei dürften gewaltig sein.«

Zu denen, die unerbittlichen Widerstand gegen diesen dreisten Vorstoß Höhns leisten werden, gehören die Kommunistinnen und Kommunisten in der Partei DIE LINKE.

Im Höhn-Papier kommen die Bundestagswahlen im September 2021 nicht vor. Dadurch erweckt es den Anschein, es ginge um eine Debatte an sich, da die »heutige Situation … kaum vergleichbar« sei »mit 2007, als sich DIE LINKE gründete, oder mit 2011, als sie ihr bis heute geltendes Programm formulierte«.

Wir gehen davon aus, dass Höhn und Gleichgesinnte fünf Monate vor dem Wahlparteitag der LINKEN am 19./20. Juni 2021 jene Positionen in der Partei durchsetzen wollen, die die friedenspolitischen Grundsätze des Parteiprogramms von 2011 neutralisieren sollen. Es geht nicht um eine abstrakte Debatte – die wäre schon zur Genüge unnütz. Es geht um ein die BRD-Staatsräson akzeptierendes Wahlprogramm. Bei Höhn klingt das so: »Linke Antworten auf der Höhe der Zeit sind gefordert, anschlussfähig an gesellschaftliche Mehrheiten, die reale Veränderungen ermöglichen.«

Jonas Schaible vom SPIEGEL übersetzt das so: »Bahn frei für ein Bündnis mit SPD und Grünen?« Das Fragezeichen ist überflüssig. Im Sprachgebrauch der LINKEN-Reformer sind »gesellschaftliche Mehrheiten, die reale Veränderungen ermöglichen« längst gleichbedeutend mit einer rot-rot-grünen Regierungskoalition im Bund. Die sogenannten sicherheitspolitischen Positionen von Grünen und SPD sind bekannt. Ebenso deren Forderungen an DIE LINKE, ihre außenpolitischen Grundsätze zu ändern. Wenn Höhn Anschlussfähigkeit fordert, dann fordert er implizit, dass unsere Partei ihre friedenspolitischen Prinzipien über Bord gehen lässt.

Die Quintessenz seines Papiers lässt sich so beschreiben: Es gibt keinen Hauptverantwortlichen für die stetig schlechter werdende internationale Lage. Alle sind schuld und nichts mehr gilt, was einmal galt. »Die Welt sortiert sich geopolitisch neu«, schreibt er. »Altes Blockdenken genügt schon lange nicht mehr. Es wird höchste Zeit, dass die Linke Antworten findet, die jenseits ausgedienter Freund-Feind-Bilder zu finden sind.« Das Bild von der NATO – ausgedient? Das Bild vom US-Imperialismus ausgedient? Das Bild deutscher Friedensverantwortung nach zwei im Interesse des deutschen Kapitals entfesselten Kriegen – ausgedient? Alles ausgedient, damit ein neues Bild Platz greifen kann? Das Bild von der Äquidistanz?

Höhn zeichnet dieses Bild der Äquidistanz: »… vor allem vor dem Hintergrund des Krieges in der Ost-Ukraine und der völkerrechtswidrigen Aufnahme der Krim in die Russische Föderation … steigen die Rüstungsausgaben beinahe unaufhörlich. … Seit 2014 stiegen die deutschen Verteidigungsausgaben um beinahe 50 Prozent. Der Militäretat ist mittlerweile so hoch wie noch nie zuvor: 2021 wird er nach NATO-Kriterien über 53 Milliarden Euro betragen. Weltweit steigen die Rüstungsausgaben in nie gekannte Höhen. Im doppelten Sinne unangreifbarer Spitzenreiter bleiben die Länder der NATO. Ihre Militärbudgets betrugen 2019 zusammen 1.040 Milliarden Dollar. Länder wie China, Russland oder Indien haben jedoch in den vergangenen Jahren teils massiv nachgezogen. Russland vergrößerte seinen Etat von 2010 bis 2016 um über 50 Prozent auf 79 Milliarden Dollar, musste danach wegen der Wirtschaftskrise nachlassen, liegt aber immer noch 30 Prozent über 2010. China hat seine Militärausgaben seit 2010 auf zuletzt 266 Milliarden Dollar nahezu verdoppelt. Indien legte im gleichen Zeitraum von 52 auf 71 Milliarden Dollar zu.«

Russland hat also mit rund acht Prozent und China mit ca. 25 Prozent der Rüstungsausgaben im Vergleich zur NATO massiv nachgezogen? Erwartet wirklich jemand von diesen beiden Staaten, die so unermessliches Leid im Zweiten Weltkrieg erfuhren, die so unvorstellbare Opfer bringen mussten, dass sie 1.040 Milliarden Dollar NATO-Rüstungs­ausgaben sowie US- und NATO-Interventionen vielerorts ohne jede Reaktion lassen?

»Wichtige Pfeiler internationaler Rüstungskontrolle kamen ins Wanken oder sind bereits eingerissen«, schreibt Höhn. Für ihn scheint es unerheblich, dass die Kündigungen von Kontrollabkommen ausnahmslos von den USA ausgingen. Weder die Russen noch die US-Amerikaner seien an der Aufrechterhaltung der Abkommen interessiert gewesen, so meint er, und stellt so die Äquidistanz auch in dieser Frage her. Mehrfach warnt Höhn DIE LINKE vor von ihm behaupteter Doppelmoral. »Ein nicht-mandatierter amerikanischer Luftschlag in Syrien, ein Einmarsch türkischer Truppen in ein Nachbarland oder der Einsatz von verbotenem Nervengift in Russland – wer glaubwürdig sein und Vertrauen aufbauen will, darf nicht mit zweierlei Maß messen«, verlangt er, als sei bewiesen, dass Nawalny von russischer Seite vergiftet wurde. Da gibt es klügere Aussagen, zum Beispiel von Gregor Gysi.

Wer glaubt, diese Gift-Aussage sei der Gipfel Höhnscher Russland-Schelte muss sich eines Besseren belehren lassen. Er fordert Deutschland auf, dahingehend zu wirken, dass »die in der NATO-Russland-Grundakte und der KSE-Schlussakte gegenseitig versicherten politischen Vereinbarungen« eingehalten werden und »dass beide Seiten keine ständige Stationierung substantieller Streitkräfte in Grenzgebieten durchführen«. Nun hat die NATO an ihrer Ostflanke – anders als von Polen und den Baltikum-Staaten gefordert – keine dauerhaften zusätzlichen Kampftruppen stationiert, sondern hat ein Rotationsverfahren implementiert. Auch sind die auswärtigen NATO-Streitkräfte dort nicht von substantieller Stärke. Wer also kann gemeint sein, in Anbetracht dessen, dass russische Truppen weder in Mexiko stationiert sind, noch in Reichweite des NATO-Landes Canada? Gemeint sein können nur unter russischem Kommando stehende Kontingente auf russischer und belorussischer Seite! Das entspricht übrigens der Sichtweise von Frau AKK, die formulierte: »Russland setzt gleichzeitig unbeirrt seine stetige Aus-, ja Aufrüstung mit konventionell und nuklear bestückten Raketensystemen fort – in direkter Nachbarschaft der Europäischen Union, unmittelbar an der Ostgrenze der NATO.« Hier wird es irre. Die Russen schützen nach schlimmster historischer Erfahrung – und erheblich zugenommener militärischer Umkreisung - nicht ihre Westgrenzen, sondern bedrohen die Ostgrenzen der NATO, die dort gar nicht sein dürfte. Aber das spielt für Höhn keine Rolle. Für ihn beginnen die Spannungen zwischen NATO und Russland nicht mit der Osterweiterung des aggressiven Militärpakts, sondern mit den Ukraine-Ereignissen 2014.

Am 21. Juni 2021 jährt sich zum 80. Mal der Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion mit 27 Millionen sowjetischen Opfern. Es ist beschämend, dass ein Mitglied der LINKEN-Fraktion im Land der Täter ohne Empathie jegliche russische Interessen negiert, und das noch als eine besondere moralische Stärke der LINKEN verkaufen will. Die Linke solle, so Höhn, nicht »Narrative anderer Staaten einfach übernehmen.« Das tun wir auch nicht. Unsere Lesart ist die: So, wie niemals ein Schlussstrich unter den Holocaust gezogen werden darf, dürfen niemals die in der Sowjetunion begangenen deutsch-faschistischen Verbrechen in Vergessenheit geraten. Wer um die Ungeheuerlichkeit dieser Verbrechen weiß, versteht die Frage Jewtuschenkos: »Meinst Du, die Russen wollen Krieg?« Matthias Höhn jedenfalls scheint nicht zu denen zu gehören.

Statt zuvörderst für vernünftige, friedliche Beziehungen zu Russland und China zu plädieren, plädiert er dafür, dass DIE LINKE »sich ernsthaft über Ziele und Mittel einer europäischen Sicherheitspolitik« verständigt. Für DIE LINKE seien Verteidigungspolitik und EU derzeit jedoch zwei unvereinbare Dinge. Das sei ein Fehler. Genauso richtig wie die Stärkung der multilateralen Ebene in der Außen- und Sicherheitspolitik sei jene der europäischen. Und dann: »Die bisher fast ausschließlich nationale Hoheit in Militär- und Rüstungsfragen kann keine dauerhafte linke Antwort sein. Bedenkt man, wie oft nicht nur in Europa nationalistische Motive Ausgangspunkt von Konflikten und Tragödien waren, liegt dies auf der Hand. Gleichzeitig macht der Ruf nach einer größeren strategischen Unabhängigkeit der EU von den Vereinigten Staaten eine tiefere Verständigung innerhalb der EU über sicherheitspolitische Aspekte unumgänglich. Die Republik Europa wäre nicht nur eine Antwort auf den nationalistischen Furor in Europa, sondern auch die politische Konstruktion, in deren Rahmen eine gemeinsame Sicherheitspolitik demokratisch definiert und umgesetzt werden kann. Dazu gehörten in letzter Konsequenz auch die Abgabe der alleinigen nationalen Hoheit über das Militär und der Ersatz zumindest relevanter Teile der nationalen Armeen durch gemeinsame europäische Streitkräfte. Dies würde nicht zuletzt auch zu erheblichen Einspar- und Abrüstungspotenzialen führen.«

Höhn vergisst, im Rahmen seines total voluntaristischen EU-Bildes hinzuzufügen, wozu sein Vorschlag auch noch führte. DIE LINKE müsste sich im Bundestag nicht mehr zu Bundeswehreinsätzen verhalten; auch der seit einem Vierteljahrhundert schwelende Streit um die Einzelfallprüfung wäre schlagartig beendet. Untrennbar mit der NATO verwobene europäische Streitkräfte würden weitgehend jenseits des Mitspracherechts der Parlamente agieren. Das nun noch als einen Schlag gegen den Nationalismus zu verkaufen, ist unfassbar. Doch Höhn ist damit noch nicht am Ende, »eherne Prinzipien infrage« zu stellen.

Er verlangt die Zustimmung unserer Partei zu Auslandseinsätzen im Rahmen der UNO. Er schreibt: »… auch Linke tun sich mitunter schwer mit einem klaren Bekenntnis zu den Vereinten Nationen. Ein Fehler. … Es brauchte klare Regeln für den Fall von drohenden oder ausgebrochenen (militärischen bzw. bewaffneten) Konflikten. Es sollte allein den Vereinten Nationen obliegen, die notwendigen Schritte einzuleiten. Das ist ein Punkt der Charta, den DIE LINKE bisher ausblendet bzw. ablehnt.«

DIE LINKE soll also so tun, als säße sie in der UNO, genau genommen sogar im UN-Sicherheitsrat, um unabhängig von realen Kräfteverhältnissen deren Gewaltmonopol und damit UN-Militäreinsätzen nach Kapitel VII der UN-Charta gegebenenfalls zuzustimmen. Auch das machte den Weg frei für Auslandseinsätze der Bundeswehr, die im Parteiprogramm strikt abgelehnt werden.

Summa summarum: Matthias Höhn will eine andere Partei. Eine, die imperialen Interessen Deutschlands mit Verständnis begegnet – denn nichts anderes bedeuten seine Vorschläge, auch wenn er nicht offen bekennt, worum es ihm letztlich geht: Ohne Wenn und Aber anzukommen im bürgerlichen Parteienspektrum und die sogenannten westlichen Werte anzuerkennen – möglichst noch in diesem Jahr. Doch das würde die Partei zerstören. Für eine sich als sozialistisch verstehende Partei sind Höhns Vorschläge ebenso unannehmbar, wie es für Karl Liebknecht die Zustimmung zu den Kriegskrediten war.